Gaza, die Shoah und die Deutschen: Warum der Fall Mascha Gessen Deutschland spaltet

Ich veröffentliche hier einen ins Deutsche übersetzten Artikel von Tonia Mastrobuoni, den ich kürzlich auf www.repubblica.it unter diesem Link gefunden habe: https://www.repubblica.it/esteri/2023/12/15/news/masha_gessen_germania_spaccata_gaza_shoah_e_i_tedeschi-421669539/?ref=RHLF-BG-P14-S2-T1. Ich habe nicht um das Recht gebeten, diese Übersetzung zu erstellen (mit Hilfe von deepl). Ich bin bereit, sie auf Anfrage sofort zu entfernen. Ich halte es für eine zivile Pflicht, diesen Text auf Deutsch zu veröffentlichen, damit unsere Deutschschweizer Landsleute verstehen, wie wir im italienischsprachigen Raum über die Situation in Bezug auf Israel und Palästina sprechen, denn sehr oft wissen sie nicht, dass wir auf diese Weise über den deutschen Raum sprechen. Ich denke, es ist sehr wichtig, nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in Europa einen Dialog darüber zu führen, wie wir über den Nahen Osten sprechen.

Pubblico qui tradotto in tedesco un articolo di Tonia Mastrobuoni recentemente trovato su www.repubblica.it a questo link: https://www.repubblica.it/esteri/2023/12/15/news/masha_gessen_germania_spaccata_gaza_shoah_e_i_tedeschi-421669539/?ref=RHLF-BG-P14-S2-T1. Non ho chiesto il diritto di fare questa traduzione (aiutato da deepl). Sono pronto a toglierla immediatamente a richiesta. Ritengo sia un dovere civile pubblicare questo testo in tedesco per far capire ai nostri compatrioti svizzeri tedeschi come parliamo della situazione riguardante Israele e la Palestina nello spazio italofono, perchè molto spesso loro non sanno che ne parliamo così e non sanno che parliamo così dello spazio tedesco. Penso sia molto istaurare un dialogo non solo in Medioriente, ma anche in Europa su come si parla del medioriente.

Gaza, die Shoah und die Deutschen: Warum der Fall Mascha Gessen Deutschland spaltet

Von Tonia Mastrobuoni

15. Dezember 2023

Es stimmt, was Masha Gessen in ihrem grossartigen Artikel für den New Yorker schrieb (hier: https://www.newyorker.com/news/the-weekend-essay/in-the-shadow-of-the-holocaust), der in Deutschland für Aufregung sorgte: «Berlin hört nie auf, uns daran zu erinnern, was hier passiert ist». Nach ihrer kommunistischen und nationalsozialistischen Vergangenheit hat die Hauptstadt nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des «kurzen Jahrhunderts» gerade in ihrer ostentativen historischen Schichtung wieder zu einer einheitlichen Identität gefunden. Im ehemaligen Regierungsviertel der Nazis, wo auch Hitlers grössenwahnsinnige Reichskanzlei stand, erstreckt sich heute über Hunderte von Metern das Holocaust-Mahnmal.

Überall kultiviert die Hauptstadt die Narben der Totalitarismen, die sie im 20. Jh. Niemand hat seine Nazi-Vergangenheit so gründlich aufgearbeitet wie Deutschland. Aber das kollektive Bewusstsein ist auch etwas Komplexes, und da läuft bei den Deutschen etwas schrecklich schief, wie der Fall Gessen zeigt.

Die in Russland geborene, grossartige Schriftstellerin und Essayistin ist unter anderem Igbtq+-Aktivistin und bezeichnet sich selbst als nicht-binär. Sie sollte als «singular they» genannt, wie es die Angelsachsen mit «they» tun. Aber um diesen Artikel über den «Fall Gessen» nicht unverständlich zu machen, lassen wir die Pronomen im Femininum, ihrem Geburtsgeschlecht. Gessen wurde in Moskau in einer jüdischen Familie geboren, die den Holocaust überlebt hatte – ihr Grossvater starb in Majdanek – und schrieb einen Artikel, in dem sie die Deutschen auf das anprangerte, was sie die «Bürokratie des Kampfes gegen den Antisemitismus» nannte, im Wesentlichen den Übereifer im Gedenkkult.

Die «Gründlichkeit», die diesem fast blinden Prinzipiengehorsam zugrunde liegt, stammt, so könnte man hinzufügen, direkt aus dem preussischen Tugenddekan. Es ist ein fast unübersetzbarer Begriff: Es ist das Gebot, alles zu tun, immer, bis zum Ende. Eine Tugend, die die Deutschen bekanntlich mit grosser Leidenschaft pflegen. Und die es ihnen nur selten erlaubt, einen Seitenblick zu wagen, über den Tellerrand ihrer Obsession hinauszuschauen. Die Schriftstellerin Nora Krug, die den wunderbaren Comic “Heimat” über die Entdeckung der Nazi-Vergangenheit ihres Grossvaters geschrieben hat, erzählte uns, dass sie, als sie einen amerikanischen Juden heiratete, feststellte, dass sie «alles über die Shoah wusste und nichts über Chanukka» wisse, alles über die Vernichtung der Juden, aber nichts über die Juden.

Einige Passagen in Gessens Artikel im New Yorker haben die einflussreiche Heinrich-Böll-Stiftung, die den Grünen nahesteht, dazu veranlasst, ihre Unterstützung für den Hannah-Arendt-Preis zurückzuziehen. Der Preis wird ihr nun am Samstag statt am Freitag von der Stadt Bremen überreicht. Und hinter verschlossenen Türen statt öffentlich. Der Preis wurde nicht abgeschafft, sondern verkleinert, als schäme man sich, ihn der in Russland geborenen jüdischen Intellektuellen zu verleihen. Eine Entscheidung, die das aufgeheizte Klima in Deutschland seit dem 7. Oktober, dem Tag des Hamas-Massakers in Israel, erklärt. Dem ‘Fall Gessen’ waren mehrere fragwürdige Vorfälle vorausgegangen, wie die Absage des Preises für die palästinensische Schriftstellerin Adania Shibli auf der Frankfurter Buchmesse.

Gessen geht methodisch vor, wenn sie die deutsche Erstarrung im Erinnerungskult auflistet. Zunächst rekonstruiert sie, wie das Verbot der Boykottbewegung gegen Israel Bds zustande kam: aus einer Idee der rechtsextremen Afd. Und in diesem Zusammenhang sei nur daran erinnert – und das zeigt schon die Dimension der Überempfindlichkeit, die man in Deutschland bei diesem Thema atmet -, dass der Direktor des Jüdischen Museums in Berlin, Peter Schaefer, vor Jahren wegen eines Tweets zur Unterstützung der BDS durch deren Sprecherin zurücktreten musste.

Am heftigsten kritisiert wurde jedoch die Passage, in der Gessen den Gazastreifen mit den Ghettos in den von den Nazis besetzten Gebieten vergleicht. In der Tat ein starker Vergleich. «In den letzten siebzehn Jahren war der Gazastreifen ein übervölkerter, verarmter Ort, umgeben von Mauern, die nur ein kleiner Teil der Bevölkerung für kurze Zeit verlassen durfte – mit anderen Worten: ein Ghetto. Nicht wie das jüdische Ghetto in Venedig oder die Ghettos in amerikanischen Städten, sondern wie das jüdische Ghetto in einem von Nazi-Deutschland besetzten osteuropäischen Land».

Für die Deutschen ist das ein ungeheuerlicher Vergleich und war der Strohhalm, um Gessen zu «bestrafen». Seit Beginn des Konflikts in Israel ist Deutschland das Land, das sich international am stärksten gegen einen Waffenstillstand im Gazastreifen ausspricht: Bundeskanzler Scholz, der als erster Staatschef der Welt nach dem Massaker vom 7. Oktober Israel besuchte, liess keine Gelegenheit aus, um zu zeigen, dass die Position Berlins auf einer Linie mit der des israelischen Premierministers Netanjahu liegt.

In mehreren deutschen Städten wurden die ersten pro-palästinensischen Demonstrationen kurzerhand verboten. Die Regierung hat – zu Recht – sowohl die Hamas-Terroristen als auch Samidoun, eine extremistische pro-palästinensische Organisation, verboten. In einer bewegenden Videobotschaft erinnerte Grünen-Chef und Wirtschaftsminister Robert Habeck daran, dass, als Deutschland 2008 Israel zur «Staatsräson» erklärte, «das keine leere Floskel war». Es ist eine Verpflichtung, die aus der eigenen Nachkriegsgeschichte Deutschlands erwächst. Die vielleicht weltweit bekannteste Geste eines deutschen Nachkriegskanzlers ist der Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos. Eine Geste, mit der Deutschland die Welt um Vergebung für die Gräueltaten der Nationalsozialisten bat.

Aber es geht um ein anderes, tieferes Problem, und das zieht sich wie ein roter Faden durch Gessens Artikel. Es geht darum, dass es in Deutschland inzwischen ein regelrechtes Dogma der Unwiederholbarkeit der Shoah gibt. Das hat zur Folge, dass zum Beispiel der Holocaust und der Völkermord in Namibia 1905, als die Deutschen versuchten, die Herero und Nama auszurotten, niemals «in einem Satz’ erwähnt werden dürfen», und inzwischen sind sich Myriaden von Afrikanisten wie Jürgen Zimmerer einig, dass dies der erste Völkermord der Geschichte war. Die angebliche Einzigartigkeit der Shoa bedeutet im Kern, dass jeder Vergleich mit dem grausamsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte in Deutschland unhaltbar und nicht zu rechtfertigen ist.

Wie gefährlich dies auch die Kritik an Israel vom Antisemitismus untrennbar macht, hat Hannah Arendt als erste gezeigt. Ihre Chronik des Prozesses gegen Adolf Eichmann in Die Banalität des Bösen ist durchdrungen von Kritik an Israel, an den Richtern, die sich von der Spektakularisierung eines für die Überlebenden der Shoah so schmerzhaften Ereignisses verführen liessen. Aber Gessen erinnert an etwas anderes Interessantes. 1948 prangerte Arendt die Gründung einer «Freiheitspartei» in Israel an, die in ihren Methoden, in ihrer politischen Philosophie «an nationalsozialistische und faschistische Parteien erinnert».

Heute, so Gessen, würde eine solche Äusserung der grossen deutsch-jüdischen Philosophin kurz nach dem Ende der Shoah als «klarer Verstoss gegen die I.H.R.A.-Definition des Antisemitismus» der International Holocaust Remembrance Alliance gelten, die von 25 europäischen Ländern und den USA angenommen wurde. Nach dieser Definition, die Antisemitismus als «ein bestimmtes Gefühl des Hasses» gegenüber Juden definiert, das auch dann zum Ausdruck kommt, wenn «Vergleiche zwischen dem heutigen Israel und der Nazi-Politik gezogen werden», würde Hannah Arendt als Antisemitin verurteilt. Eine Definition, die «keine Rechtskraft hat, aber eine enorme Wirkung», kommentiert Gessen. Wie sehr, hat die grosse russisch-jüdische Intellektuelle gerade am eigenen Leib erfahren.